Wenn man zu jeder Zeit, dem Augenblick zurufen möchte: "Verweile doch, du bist so schön." Diese Befriedigung im Glück, diese Flitterwochenschaft kann uns nicht durch ein ganzes Leben begleiten,
aber man muss sich sicherlich davor hüten, nie eine Gegenwart zu haben, weil man immer auf eine Zukunft hofft.
Theodor Fontane (1819 - 1898)
Literaturkreise setzen rein formal die Tradition der ehemaligen Lesegesellschaften fort, die sich als Organisationsform literarisch Interessierter im 17. – 19. Jahrhundert auf lokaler Ebene zusammenfanden, um sich mit Büchern oder Zeitschriften auseinanderzusetzen, die für den einzelnen oftmals finanziell nicht erschwinglich waren. Ab 1850 entwickelten sie sich aus dem bürgerlichen Bildungsenthusiasmus zu allgemein literarisch-kulturellen und geselligen Klubs, z. T. mit politischen Ambitionen. Mit der Massenproduktion billiger Zeitschriften und Bücher, vor allem aber durch die allgegenwärtigen Produktionen visueller Medien spielen die literarischen Vereinigungen heute eine eher untergeordnete Rolle. Lesen ist zu einer Luxustätigkeit verkommen, weil man dafür Zeit aufbringen muss, die viele heute nicht mehr zu haben scheinen. Vielleicht liegt es daran, dass sich eher ältere, am Ende ihres Berufslebens befindliche Menschen einem literarischen Zirkel anschließen, die im Laufe der Jahre entdeckt haben, dass gute Literatur erfreuen und belehren (prodesse et delectare), dass sie vor allem Lebenshilfe vermitteln kann. Denn Literatur lässt sich hervorragend unter dem Gesichtspunkt von Konfliktlösungen und Leitbildern auswerten, was besonders reizvoll ist, wenn durch Mehrdeutigkeit ausgezeichnete ästhetische Texte vorliegen, die Verstehensräume anbieten. Das trifft zweifellos auf das Werk von Theodor Fontane (1819 – 1898) zu, der mit Fug und Recht als der größte Erzähler des 19. Jahrhunderts gilt.
„Der Anfang ist immer das entscheidende“, schrieb Fontane in einem Brief vom 3. Juni 1879 an Mathilde von Rohr, die ihm oft bei der Literaturrecherche half, „hat man’s darin gut getroffen, so muß der Rest mit einer Art innerer Notwendigkeit gelingen, wie ein richtig behandeltes Tannenreis von selbst zu einer graden und untadeligen Tanne aufwächst.“ Auch wenn sich dieses Zitat auf die Entstehung des Romans „Schach von Wuthenow“ bezieht, lässt es sich doch sinngemäß auch auf den Beginn des Bocholter Fontane-Kreis übertragen.
Nachdem Dr. Gotthard Erler, damals Programmchef des Aufbau-Verlages und Vorstandsmitglied der Theodor-Fontane-Gesellschaft in Potsdam, in Bocholt zwei Vorträge über Fontane gehalten hatte, entwickelte Kurt Stappenbeck, damals Pastor der Christuskirche die Vorstellung, einen Fontanekreis zu gründen. Der erste Vortrag fand am 25. Januar 1992 statt und trug den Titel „Auf Fontanes Spuren in der Mark Brandenburg“. Als eigentliches Gründungsdatum aber ist die offizielle Einweihung des „Literaturtreffs Theodor Fontane“ zu werten, die am 24. August 1997 erfolgte, denn zu diesem Zeitpunkt stand verlässlich fest, dass der Literatur-kreis Bestand haben könnte. Bei der Gründungsversammlung wurde festgelegt, dass monatlich ein Vortrag mit eigenen oder auswärtigen Referenten Fontanes Werk und seine Persönlichkeit einer interessierten Öffentlichkeit nahe bringen sollte. Der erwartete, aber in seinen Ausmaßen doch überraschende Erfolg führte dazu, dass auch zwei Vorträge pro Monat auf eine gleichbleibend gute Resonanz stießen. Sehr bald wurde auch klar, dass es nicht nur um Fontane, sondern auch um andere Schriftsteller gehen müsste, klassische wie moderne. Einerseits konnte damit der Interessentenkreis erweitert werden; andererseits konnte man auf aktuelle literarische Ereignisse (z. B. Jubiläen, Gedenkjahre) eingehen. So standen beispielsweise Leben und Werk des großen Philosophen Immanuel Kant (Gedenkjahr 2004) und des Nationaldichters Friedrich Schiller (Gedenkjahr 2005) neben Fontane auf dem Programm. Aus dem gleichen Grunde wird im kommenden Jahr an Heinrich Heines 150. Todestag zu erinnern sein, ein Poet, der übrigens auch von Fontane sehr geschätzt wurde. Hier und da von Außenstehenden geäußerte Bedenken, es sei langweilig, sich ausschließlich mit Leben und Werk eines einzigen Schriftstellers auseinanderzusetzen, treffen für den Bocholter Fontanekreis jedenfalls nicht zu. Es hat in der Vergangenheit Programme gegeben, auf denen Fontane nur sehr spärlich vertreten war. Gleichwohl stellt sein gesamtes Werk einen Schwerpunkt des Kreises dar.
Was an Fontane ist so interessant, dass es lohnt, sich mit seinem Werk auseinanderzusetzen? Oder anders gefragt: Was kann uns Heutige am größten deutschen Erzähler des 19. Jahrhunderts noch interessieren? Für die große Wirkung, die Fontanes Romane auch auf heutige Leser noch ausüben, lassen sich mehrere Gründe anführen, von denen hier nur drei genannt werden sollen:
Als Autor des 19. Jahrhunderts machte er als einer der ersten Schriftsteller die für Frauen so einschränkenden Gesellschafts- und Standesformen zum Gegenstand literarischer Kritik. Nicht von ungefähr stellen in seinen 17 Romanen 10 Romane, also mehr als die Hälfte, Frauen die Titel-/Hauptfigur (‚Effi Briest’ ist nur die bekannteste). Aber auch in den sieben anderen Romanen gewinnen die Frauengestalten besondere Konturen, die zeigen, dass Fontane den Frauen mehr Freiheit zubilligen will als seine Zeitgenossen es tun. Die damals gesellschaftlich weitgehend festgelegte Rolle der Frau bot dem Schriftsteller eine hervorragende Möglichkeit, die einschränkende und prägende Wirkung gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen facettenreich aufzuzeigen. Genau diese Thematik, die verallgemeinernd als Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft (oder: Mensch und Geschichte) gesehen werden kann, ist auch eine, die uns Heutige beschäftigt, wenngleich in einem anderen sozialen Kontext.
Fontane, der wie kein anderer den wirtschaftlichen Aufschwung und Niedergang des Adels im Wilhelminischen Kaiserreich thematisiert hat, macht daran deutlich, dass die sozialpsychologische Deformation der Gesellschaft ein Hauptmotiv seines Schreibens ist. Indem er detailliert den Wertewandel in der wilhelminischen Gesellschaft mit deren Tendenz zur Prunkerei und Etepetetehaltung und dem Auseinanderdriften von Besitz und Bildung beschreibt, wird uns heutigen Lesern bewusst, dass auch wir in einer Zeit ähnlichen Umbruchs leben, mit dessen sozialen Folgen wir uns (noch) auseinanderset-zen müssen.
Fontane erkannte als unabänderliches Lebensgesetz den Wandel von >Alt und Neu<, den er in seinem Alterswerk Der Stechlin zum zentralen Thema machte. Die Erkenntnis, dass jedem Menschen und jedem geschichtlichen Ereignis nur eine bestimmte Zeit zur Verfügung steht, führt zu einer bewussteren Haltung dem Leben gegenüber. Aus dem ewigen Wandel und Vergehen in Natur und Geschichte gewinnt der Mensch die Erfahrung der Endlichkeit. Allein aus dem Todesbewusstsein lässt sich ein Leben begründen, das sich im Zusam-menhang mit dem Großen und Ganzen weiß. Daraus resultiert eine reflexive Geisteshaltung, die Fontane über eine Romanfigur zum Ausdruck bringen lässt: „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“
Wir wissen natürlich, dass sich die Rezeptionsbedingungen eines literarischen Werkes ständig wandeln, dass es somit keinen ein für alle allemal gesicherten Besitz darstellt, sondern stets neu aufgefasst und verstanden sein will. Insofern verbieten wir uns eine irgendwie geartete ‚ideologische‘ Ausrichtung, sondern sind allen plausiblen Ansätzen gegenüber offen. Es geht nicht darum, ein bestimmtes Fontane-Bild zu vermitteln, sondern darum, zu einem litera-rischen Thema informative Einführungen zu geben, die Interesse wecken wollen, sich selbstständig mit der im jeweiligen Werk angesprochenen Problematik ausein-anderzusetzen. Der Fontane-Kreis ist also weit entfernt davon, ein esoterischer, ex-klusiver Debattierclub zu sein.
Selbstverständlich erwartet niemand, dass sich im Fontane-Kreis ausschließlich ausgewiesene Fachleute treffen, solche, die buchstäblich jede Zeile des Dichters gelesen haben. Wer will, kann sich an den Diskussionen beteiligen, die sich in der Regel an die Vorträge oder auch Filmdarbietungen anschließen. Aber auch jene Literaturfreunde, die einfach nur passiv zuhören wollen, sind herzlich willkom-men. Eigentlich gibt es nur eine Grundbedingung: Freude und Interesse an Literatur zu haben. Der ständig wachsende Fontanekreis lebt buchstäblich vom Interesse der Literaturfreunde, denn es gibt keine Satzung und es werden keine Mitgliedsbeiträge erhoben; der Bocholter Fontane-Kreis finanziert sich ausschließlich aus freiwilligen Spenden. Wenn von den insgesamt 12 in der Bundesrepublik bestehenden Fontanekreisen der Bocholter der größte ist und mit Recht als "Zentrum des literarischen Lebens an der niederländischen Grenze" gilt, verdankt sich dieser Umstand der Tatkraft seines Gründers und Leiters Kurt Stappenbeck, dem es bisher immer wieder gelang, zugkräftige Programme zu er-stellen und renommierte Referenten zu gewinnen.
Der Bocholter Fontanekreis besteht seit nunmehr 20 Jahren. Die Teilnehmerzahlen belegen, dass der Fontanekreis lebendig ist und sich dynamisch weiterentwickelt. Dass Fontane nicht nur ein großer Romancier ist, sondern auch in der Lyrik Wesentliches mitzuteilen hat, mag der folgende Spruch belegen, der Eingang in viele Poesiealben gefunden hat:
Es kann die Ehre dieser Welt
Dir keine Ehre geben,
Was dich in Wahrheit hebt und hält
Muss in dir selber leben. –
Das flüchtge Lob, des Tages Ruhm
Magst du dem Eitlen gönnen;
Das aber sei dein Heiligtum:
Vor dir bestehen können.
Gekürzter Abdruck aus: UNSER BOCHOLT, Doppelheft Januar / Februar 2007