Fontanes Lebensweg war lang und steinig. Erfolglos in der Jugend, musste er viele, vor allem finanzielle Kämpfe bestehen, um endlich als freier Schriftsteller von seiner Arbeit gut leben zu können. Er wurde fast sechzig, bis er den ersten der Romane publizieren konnte, die seinen späten Ruhm begründeten und ein großes literarisches Gesamtwerk hinterließen. Dennoch hat er die längste Zeit seines Lebens, nämlich mehr als vier Jahrzehnte lang, überwiegend, wenn auch eher ungern, als professioneller Journalist gearbeitet. Sein Lebensweg beweist, dass wahre Souveränität oftmals erst mit den Jahren kommt. 2019 jährt sich sein Geburtstag das 200. Mal.
Da sein Leben fast das ganze 19. Jahrhundert umspannte, „Revolution und Restauration, Gründerzeit und Wilhelminismus“*, wurde er zum Chronisten des bürgerlichen Zeitalters.
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Katharina Grätz:
Alles kommt auf die Beleuchtung an – Theodor Fontane – Leben und Werk, Reclam Verlag, Stuttgart 2015, Taschenbuch Nr. 20 387, S. 7
Henri Théodore Fontane wurde am 30. Dezember 1819 in dem preußischen Pro-vinzstädtchen Neuruppin als erstes von fünf Kindern geboren. Seine Vornamen weisen ihn als Hugenottenabkömmling aus, der sich aber selbst immer Theodor nannte. Seinen Nachnamen sprach er al-lerdings im Gegensatz zur heutigen Gewohnheit französisch aus (also ohne Endungs-e). Sein Vater war der Apotheker Louis Henri Fontane (1796 ‑ 1867), der als ein „Bruder Leichtfuß” viel Geld verspielte, während es seine Mutter Emilie (geb. Labry, 1797 – 1869) zusammenzuhalten versuchte. Auch die Mutter war hugenottischer Herkunft. Als Fontanes Geschwister Rudolf (1821), Jenny (1823) und Max (1826) geboren wurden, wurde die finanzielle Lage so prekär, dass der Vater am 8. Juli 1826 seine Löwenapotheke verkaufte und mit der Familie nach Swinemünde an der Odermündung übersiedelte.
Weitere Umzüge der Familie nach Mühl-berg an der Elbe und Letschin im Oder-bruch dienten vor allem der Suche nach einer neuen Apotheke als Existenz-grundlage. Fontanes Mutter Emilie war eine eher nüchterne Natur und notge-drungen haushälterisch. Die Streitigkeiten der Eltern überforderten den klei-nen Theodor, der hin- und hergerissen war zwischen der starken, im calvinistischen Geist erzogenen Mutter und dem schwachen Vater. Die Eltern Theodors trennten sich 1847 ohne Scheidung. Der Vater starb vereinsamt 1867 im Alter von 72 Jahren in Schiffmühle. Die Mutter, die nach der Trennung nach Neuruppin zurückgegangen war, starb 1869 im Alter von 71 Jahren.
Das unstete Leben der Familie bedingte häufige Umzüge, die sich ungünstig auf Theodors Bildung auswirkten; von einem geregelten Schulbesuch konnte keine Rede sein. So wuchs Fontane in eher kärglichen Verhältnissen auf und konnte daher auch nicht seine Schulausbildung vollenden. Seine Bildung beurteilte er später selbstkritisch als »Stückwerk«. Dennoch erfüllte er den Wunsch seiner Eltern, wie der Vater Apotheker zu werden. Deshalb begann er nach dem “Ein-jährigen” (heute etwa vergleichbar dem FOS-Schulabschluss) 1836 eine Apothe-kerlehre, die er 1839 beendete. Im gleichen Jahr erfolgte seine Konfirmation in der französisch-reformierten Kirche und es gelang ihm, in diesem Jahr seine erste Novelle mit dem Titel „Geschwisterliebe“ im Berliner Figaro zu veröffentlichen. Danach folgten die ersten Gedichte. Als Apothekergehilfe erarbeitete er sich in den Jahren 1840 – 46 in insgesamt sieben Apotheken das nötige Berufswissen und den Umgang mit Kunden. Zwischendurch leistete er vom 1. April 1844 bis zum 31. März 1845 beim Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiment Nr. 2 seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger, ein Dienst, der heute etwa dem Wehrdienst entspräche. Sein Schulabschluss gab ihm das Vorrecht der nur einjährigen freiwilligen Dienstzeit, die er regulär mit dem Dienstgrad Corporal (Unteroffizier) abschloss. Nach der Grundausbildung nutzte der nunmehr 23-jährige Fontane einen 14-tägigen Urlaub vom Militärdienst, um mit einem Schulfreund eine erste London-Reise zu machen, die ihn zugleich erstmalig über die Grenze des deutschsprachigen Gebietes hinaus führte. London war damals mit rund zweieinhalb Millionen Einwohnern etwa fünfmal so groß wie Berlin und hatte, wie Fontane an anderer Stelle schrieb, mehr Nachtwächter als das Königreich Sachsen Soldaten.
Nach Beendigung seiner Militärzeit arbeitete der junge Pharmazeut wieder als Apotheker, bevor er 1847 das Staatsexamen ablegte, mit dem ihm die Approbation als »Apotheker erster Klasse« zu-erkannt wurde. Damit wäre er berechtigt gewesen, selbstständig eine Apotheke zu führen. Aber da der angehende Dichter und Apotheker an chronischer Finanznot litt und ihm das notwendige Startkapital fehlte, musste er als Angestellter, nämlich als pharmazeutischer Lehrausbilder im Berliner Krankenhaus Bethanien weiterarbeiten. Zu der Zeit trug er sich ernsthaft mit dem Gedanken, seinen Brotberuf Apotheker aufzugeben und in die schreibende Zunft zu wechseln, d. h. vorerst in den Journalismus.
Meinungsbildend für den jungen, noch unsicheren Fontane waren damals zwei öffentliche, aber nicht staatliche Institutionen, die sich aus der politischen Situation des Zeitraums von 1815 bis 1848 in größeren Städten gebildet hatten: die Lesecafés und die literarischen Vereine. In ihnen pflegten Künstler und liberale Intellektuelle einen radikal-demokratischen Geist, der von Staats wegen verboten war. Entsprechend den damaligen Vorstellungen über die Geschlechterrollen, wonach Frauen an den Herd, nicht aber in die Öffentlichkeit gehörten, waren Frauen hier ausgeschlossen.
Nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon stieg der österreichische Staatskanzler (1821 – 1848) Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773 – 1859) zu einem der führenden Staatsmänner in Europa auf. Dieser hatte in den so genannten Karlsbader Beschlüssen (1819) in den einflussreichsten Staaten des Deutschen Bundes die Pressezensur eingeführt weil er befürchtete, der revolutionäre Geist ziele systematisch auf den „Umsturz der Altäre und Throne“. Die Pressezensur diente der Überwachung und Bekämpfung liberaler und nationaler Tendenzen im nachnapoleonischen Deutschland. In den staatskritischen Debattierclubs las man also weniger hochgeistige Literatur, sondern die politische Literatur im Umkreis des Jungen Deutschland (z. B. Ferdinand Freiligrath, Heinrich Heine und Georg Herwegh). In einigen literarischen Vereinen, die oftmals den Namen staatskritischer Dichter trugen, wurde Fontane Mitglied; hier wurde er u. a. mit politischer Lyrik konfrontiert. 1840 trat er dem Berliner Platen-Klub, kurz danach dem Lenau-, und später dem Herwegh-Verein in Leipzig bei. Fontane tummelte sich nicht von ungefähr in diesen Kreisen, denn hier waren die gesellschaftlichen Schranken am niedrigsten und hier wurde seine soziale Deklassierung langsam aufgehoben. Aber hier durchlief der politisch und weltanschaulich noch nicht gefestigte Fontane eine halbrevolutionäre Sturm-und-Drang-Zeit, die eine Nähe zur radikaldemokratischen Vormärz-Strömung zeigte. Er beschloss diese Le-bensphase als Korrespondent der radikal-demokratischen, antipreußischen "Dresdner Zeitung" und veröffentlichte politische Artikel, in denen er für "Freiheit um jeden Preis" und eine republikanische Staatsform eintrat. Fontane hat später eine Kette von politischen Metamorphosen durchlaufen, die letztlich in einen immer stärker werdenden Konservativismus mündeten. Das hatte oft auch mit seiner dauerhaften prekären finanziellen Lage zu tun. Er wollte und musste Geld verdienen, und so suchte er seinen Weg zwischen den politischen Fronten.
In einem Brief an seinen Altersfreund, den 23 Jahre jüngeren Schmiedeberger (Schlesien) Amtsrichter Georg Fried-laender, äußerte er sich in den 90er Jahren rückblickend über seinen mehr als
holprigen Start ins Leben:
»Ohne Vermögen, ohne Familien-anhang, ohne Schulung und Wis-sen, ohne robuste Gesundheit bin ich ins Leben getreten, mit nichts ausgerüstet als einem poetischen Talent und einer
schlechtsitzenden Hose.«
(Brief an Georg Friedlaender, 3. Oktober 1893)
Die für den Dichterberuf notwendige Bildung verschaffte sich Fontane weitgehend als Autodidakt in den Lesecafés und den literarischen Vereinen. Ganz entscheidend für seine weitere Laufbahn wurde der literarische Sonntagsverein mit dem gewollt sonderbaren Namen "Tunnel über der Spree". Dieser merkwürdige Name war abgeleitet von dem damals im Bau befindlichen technischen Wunderwerk des Londoner-Themse-Tunnels. Wie hier künftig der Verkehr und der Handel durch den Tunnel unter der Themse dahinfließen sollten, so sollte in Berlin der Geist durch den Tunnel über der Spree in die Breite wirken. Ursprünglich 1827 von dem Journalisten M. G. Saphir, einem Humoristen der Biedermeierzeit, gegründet, trafen sich hier aufstrebende Beamte, junge Adelige, Assessoren und Offiziere, aber auch bekannte Persönlichkeiten (wie z. B. Emanuel Geibel, Theodor Storm) zum gedanklichen Austausch. Da viele Tunnelmitglieder bereits im Staatsdienst standen bzw. eine Stellung im Staatsdienst anstrebten, hielten sich alle mit oppositionellen Äußerungen zurück. Es war sogar in den Vereinsstatuten festgelegt worden, jegliche politische Debatte, vor allem über Gegenwartsfragen, zu unterlassen. Fontane selbst wurde im Juli 1843 durch seinen ehemaligen militärischen Vorgesetzten und späteren lebenslangen Freund Bernhard von Lepel als Gast in den Verein eingeführt und nach seiner ersten England-Reise im Herbst 1844 unter dem „Tunnelnamen“ „Lafontaine“ als vollwertiges Mitglied in den Verein aufgenommen. Er benannte sich also nach dem französischen Fabel Dichter Jean de La Fontaine (1621 - 1695). Das Procedere des Tunnelnamens war keineswegs eine Marotte, denn der wurde bei den Zusammenkünften und auch im Briefverkehr untereinander verwendet; damit sollten die Standesunterschiede als unwichtig erscheinen. Nominell mehr als 20 Jahre blieb Fontane im „Tunnel“ (1843 – 1865), ebenfalls ein reiner Männerverein, stellte sich dort mit mehr als 100 Gedichten der Kritik und übernahm auch Ämter, u. a. den Posten des Sekretärs, ja sogar den des Vorsitzenden. Der „Tunnel“ wurde für Fontane der Ort der ersehnten gesellschaftlichen Integration. Fontane unterwarf sich der Vereinsdisziplin, die verlangte, vormärzliche Ideen und die Bestrebungen des Jungen Deutschland völlig aus ihrem restaurativem Literaturprogramm zu streichen. Aber er brauchte ein Sprungbrett, und tatsächlich begegnete er hier einflussreichen Persönlichkeiten, deren Bekanntschaft entscheidenden Einfluss auf seinen weiteren Lebensweg haben sollte. Sein dichterisches Vorbild wurde Moritz Graf Strachwitz (1822 - 1847) mit seinen gegen die Tendenzkunst der Jungdeutschen gerichteten Balladen, in denen ein idealisiertes Heldentum im nordischen Sagen-kleid gefeiert wurde.
Mit der Mitgliedschaft von Strachwitz ergab sich ein Hauptinteresse des „Tunnels“ für die so genannte „Heldenballade“. Einmal, weil sie der Zeitstimmung von Patriotismus und Nationalismus besonders entgegen kam; zum zweiten, weil sie aktuellen politischen Fragen auswich. Auf der Suche nach unverfänglichen Stoffen setzte Fontane auf das Preußisch-Patriotische, das Nordische und Schottische. Viele Anregungen bekam er aus der Sammlung englischer Volksballaden durch den Bischof Thomas Percy, dessen „Reliques of Ancient English Poetry“ erstmals 1765 erschienen waren. Eine weitere Quelle stellte Walter Scott dar, der ab 1802 in seinem dreibändigen Werk „Minstrelsy of the Scottish border“ eine Vielzahl an Balladen veröffentlichte. Auf der Überlieferung von Scott schuf Fontane seine wohl berühmteste Ballade von Archibald Douglas (1854), die im “Tunnel” stürmisch gefeiert wurde.
Fontanes Vorlage stammte von Scott, die er aber eigenständig umarbeitete. In Scotts Erzählung steht Graf Archibald Douglas (1489 - 1557) im Vordergrund, der Spross eines der ältesten schottischen Adelsgeschlechter, das sich immer wieder gegen das Königshaus empörte. Archibald Douglas war zu Beginn treuergebener Vormund über den bereits mit 17 Monaten gekrönten Jakob V. Jakob (engl. James V.; 1512 - 1542) war von 1513 bis zu seinem Tod König der Schotten (engl. King of Scots). Aber nach Streitigkeiten und Verratsintrigen verbannte der junge König als 16-jähriger 1528 ausnahmslos alle Personen mit dem Namen Douglas aus dem Land; keiner von ihnen sollte je wieder eine wichtige Stelle bei Hofe erhalten, auf Rückkehr stand die Todesstrafe. (Die ursprüngliche Ballade ist somit ein Beispiel für frühe Sippenhaftung!) Nach sieben entbehrungsreichen Jahren kehrt Archibald aus dem französischen Exil in die Heimat zurück und bittet den König um Begnadigung. Der König indes weist ihn brüsk ab und so muss „Der Verbannte“ – so der spätere Balladentitel Fontanes – das Land wieder verlassen. Er stirbt im Exil an gebrochenem Herzen. Angeblich hat Heinrich VIII., der Onkel König Jakobs V., diese Haltung missbilligt mit dem Reimpaar: „A King’s face / shall give grace“ (Des Königs Blick verheiße Glück!)
In Fontanes Umarbeitung nun kann der gealterte Douglas seine Verbannung aus Schottland nicht länger ertragen. Ob-wohl ihm bei heimlicher Rückkehr die Todesstrafe erwartet, wagt er sich im Pilgerkleid in seine schottische Heimat. Auf einer Jagd des Königs treffen die beiden aufeinander. Der König tötet ihn zwar nicht, will ihn aber auch nicht anhören: „Ich seh‘ dich nicht, ich höre dich nicht“ und reitet weiter. Der Douglas folgt dem Reiter in demütiger Haltung und erinnert den König an dessen Jugendzeit, als er sein Vormund war, als ich dich fischen und jagen [ … ] und schwimmen und springen gelehrt. Er bittet und fleht, wenigstens als Stallbursche in seiner geliebten Heimat arbeiten zu dürfen und bietet dem König an, ihn lieber zu töten als ihm die Rückkehr zu verweigern. Die unaus-löschliche, zu jedem Opfer bereite Liebe des verbannten Titelhelden zu seiner schottischen Heimat stimmt den König um. Er springt ab und nimmt den Grafen wieder als Seneschall in seinen Dienst:
Der ist in tiefster Seele treu,
wer die Heimat liebt wie du.
Diese dramatische Begegnung hat Fontane abweichend von der Vorlage – in freier Erfindung geschaffen, weil er zeigen will, wie durch das emotional geladene Gespräch zwischen König und Vasall und durch die Erinnerung ihrer gemeinsamen Jahre Hass und Groll besiegt werden können. Der ehemals stolze Douglas zeigt sich demütig und der König nachdenklich und gnädig. Beide können über ihren Schatten springen (der König begeht sogar einen Bruch seines Eides), weil sie den Konflikt nicht heldenhaft im traditionellen Sinn gewaltsam lösen, sondern ausschließlich auf psychischer bzw. rein menschlicher Ebene. Die Lösung e-gibt sich aus dem übermächtig gewordenen Heimatgefühl Archibalds, das die Verkrampfung der Seele des Königs löst und diesem hilft, die Geduld und Aus-dauer des Verbannten anzuerkennen. Fontanes detaillierte Szenengestaltung macht miterlebbar, wie die Verhärtung des Königs weicht, wie Menschlichkeit siegt.
Wurde in der klassischen Heldenballade der Konflikt durch äußeres Geschehen, z. B. forsches Draufgängertum gelöst, wird er in Fontanes Bearbeitung in innerpsychische Vorgänge transformiert.
Fontane betritt, indem er das traditionelle Muster der Gattung psychologisiert, Neuland. Das kam bei den Lesern an und so wurde Archibald Douglas eine äußerst erfolgreiche Ballade Fontanes, die
Eingang in alle Balladensammlungen fand.
Auch wenn die Ballade später wegen ihres gar zu märchenhaft scheinenden Schlusses kritisiert wurde, ferner wegen der versteckten Lobpreisung eines idealisierten Herrschaftsverhältnisses und einer stark ins Nationale gehende Heimatliebe, zeigt sie doch erstmalig den auf Humanität und Harmonie ausgerichteten Sinn Fontanes.
Fontane hatte diese neue, psychologische Sichtweise bereits im Winter 1849 mit seiner ersten Buchveröffentlichung vorbereitet, seine Balladen aus dem Zyklus „Männer und Helden. Acht Preußenlieder“. Auch wenn der Dichter gern von seinen Preußen l i e d e r n spricht, sind sie doch vor allem B a l l a d e n, in denen das Lyrische mit dem Epischen und Dramatischen eng verbunden ist. Es handelt sich um Porträts preußischer Generale des Großen Kurfürsten, also um Figuren des friderizianischen Preußens des 17. und 18. Jahrhunderts. Fontane suchte seine Helden nicht mehr in der Antike oder dem Mittelalter, sondern in der preußisch-brandenburgischen Geschichte, die noch nicht ganz so weit zurück lag und somit seinen historischen Gestalten größere Gegenwartsnähe sicherte. Zugleich aber schuf er eine besondere Art der anekdotischen Balladendichtung, indem er nicht die militärischen Fähigkeiten seiner populären siegreichen Generäle und Haudegen in den Vordergrund stellte, sondern sie als Persönlichkeiten mit außergewöhnlichen Charaktereigenschaften und Wesenszügen anpries. Eine mitgelieferte Anekdote diente dann dazu, positive Erinnerungen an diese bestimmte historische Persönlichkeit zu bewahren, indem sie gerade die mensch-lichen und charakterlichen Züge in den Vordergrund stellte.* In der Ballade „Der alte Zieten“ beispielsweise werden zwar allerhand Schlachtenorte aufgezählt, die lediglich auf seine militärische Karriere verweisen, ohne diese näher zu vertiefen; das gilt auch für die Lebensgeschichte Zietens. Der Leser muss also wissen, dass der vorzüglichste Reitergeneral Friedrichs des Großen, Hans Joachim von Zieten (1699 – 1786) sich im 2. Schlesischen Krieg (1744 / 45) und im Siebenjährigen Krieg 1756 – 63 ausgezeichnet hatte und die letzte große Schlacht des Siebenjährigen Kriegs bei Torgau (1760) entschied. Er entwickelte die Taktik der Aufklärung und führte eine bewegliche Kampfführung mit sei-ner von ihm geschaffenen Husaren-Ka-vallerie („Husarenvater“) ein, mit denen er militärische und oft schlachtentscheidende Überraschungsangriffe durchführte, die ihm im Volk seinen sprichwörtlichen Beinamen »Zieten aus dem Busch« einbrachte. Die Aussage der Ballade focussiert sich aber im Grunde auf zwei Anekdoten. So ist der alte Zieten an der Tafelrunde von Sanssouci eingeschlafen und einer der Höflinge will ihn wecken. Friedrich der Große jedoch hindert ihn daran mit dem (fürsorglichen) Kommentar (eines Landesvaters):
"Laßt schlafen mir den Alten,
Er hat in mancher Nacht
Für uns sich wach gehalten,
Der hat genug gewacht!"
Die zweite Anekdote geht von der Tatsache des sehr plötzlichen Todes von Zieten aus („So war der Tod gekommen / Wie Zieten aus dem Busch“). Dem überraschenden Tod kann selbst dieser beweglich-agile Held nicht entkommen. Ungewöhnlich auch, dass ein hochrangiger Militär friedlich im Bett stirbt und nicht auf irgendeinem Schlachtfeld. Das übliche Versatzstück vom „Opfertod fürs Vaterland“ wird von Fontane also nicht verwendet. Anders als im traditionellen Genre des Heldenliedes hält Fontane den Heldentod auf dem Schlachtfeld nicht mehr für erforderlich. Der Tod markiert hier bei Zieten den Abschluss eines reichen, erfüllten Lebens im Dienste seines Landes und unterstreicht damit die vorbildliche Pflichterfüllung des Helden, auf dessen Bescheidenheit in der letzten Strophe noch einmal hingewiesen wird. Hier heißt es, der (einfache) »Husar« sei auf dem Totenbett »schlicht eingehüllet« worden, bei dem sich – im biblischen Tonfall gesprochen – eben »die Zeit erfüllet hat«.
In diesen Preußenliedern manifestiert sich eine ambivalente Form der Heldenstilisierung, die sowohl vermenschlichend als auch verklärend ausfällt. Darin lag aber eine gewisse Gefahr. Obwohl Fontanes Heldendarstellung jegliche Verherrlichung preußischen Soldatentums vermeidet, könnte man in ihr doch eine affirmative Huldigungslyrik sehen. Tatsächlich entwickelten sich im Umfeld Fontanes dynastische Huldigungen plumperer Art.** Auch Fontanes Reduktion einer an sich komplizierten Persönlichkeit auf nur wenige Merkmale ist nicht unproblematisch, weil sie im Leser unbewusst die Grundlage einer unkritischen Heldenverehrung legen kann. Weil Anekdoten das Private und Menschliche hervorheben, und damit das, was alle Menschen verbindet, können sie dem Leser unbewusst suggerieren, dass soziale Schranken zwischen Ständen oder Klassen letztlich keine Bedeutung haben und dass der Landesherr und seine Gefolgschaft stets bestrebt sind, ausschließlich den Nutzen des Volkes fördern zu wollen. Damals sah man nicht die Gefahr, dass patriotische Dichtungen dieser Art unpolitisches Verhalten in der Bevölkerung verstärken könnten. Fontanes Preußenlieder jedenfalls wurden ein großer Erfolg und der Dichter merkte in einem späteren Rückblick an, dass sie ihn auf »einen Schlag zu einer kleinen Berühmtheit« gemacht hatten. Der Sonntags-Verein hat Fontane wirklich voran gebracht und deshalb setzte der Dichter ihm später in seinem autobiographischen Werk "Von Zwanzig bis Dreißig" (1898) im Kapitel "Der Tunnel über der Spree" ein literarisches Denkmal.
Die Preußenlieder machten Fontane als Balladier” erstmals in weiten Kreisen bekannt.
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Wegen dieser Überlegungen ist vorgeschlagen worden, statt von »Handlungsballaden« angemessener von »Charakterballaden« zu sprechen.
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Johann Wilhelm Ludwig Gleims Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757, die 1758 erschienen sind, fanden als Preußische Grenadierslieder großen Anklang, weil sie als Rollengedichte
eines einfachen Soldaten daherkamen. Mit diesen Liedern zum Siebenjährigen Krieg wurden Fontanes Heldenballaden und die Lieder anderer Verfasser patriotischer Lyrik immer wieder (zu Unrecht)
verglichen. Es kam überhaupt zu einer »Überschwemmung patriotisch-militärischer Poesie« (Fontane), alles Beispiele für Auftragsarbeiten einer preußischen Agitationspublizistik. Fontane verachtete
diese Art patriotischer Trivialliteratur.
Aber mit seiner Hinwendung zum Roman, ab etwa 1875, kam es bei Fontane zu einem bedeutenden »zweiten Balladenfrühling«, in dem er das Genre der Ballade innovativ erneuerte. Er ließ die nordische Vorzeit wie auch die konventionelle Heldenfigur ganz hinter sich und siedelte seine Balladen in der technischen Gegenwart an, so in den folgenden berühmten Balladen.
Fontanes frühe Kritik an Technik- und Fortschrittsgläubigkeit findet sich in seiner Ballade Die Brück am Tay (1879). Den unmittelbaren Anlass dazu erhielt der Dichter durch die Nachricht vom Einsturz der damals weltweit größten Eisenbahnbrücke über den Firth of Tay gepriesen als “großen Triumph der Ingenieurskunst des Zeitalters”, durch die ein vollbesetzter Zug in die Tiefe gerissen wurde. Es war die größte Eisenbahnkatastrophe des 19. Jahrhunderts, die sich am 28. Dezember 1879 ereignete und die kurz danach in allen europäischen Zeitungen verbreitet wurde. Im Gegensatz zur historischen Heldenballade mit ihrem Kostümzauber präsentiert Fontane hier eine moderne Ballade, die zeitgemäß ist, der Gegenwart angehört und die von einer Wirklichkeit berichtet, die (für alle Leser) erfahrbar ist. Und, wichtiger noch: Der Dichter verwendet die Ballade zur Kritik eines Zeitgeistes, der sich dem hemmungslosen technischen Fortschritt verschrieben hatte. Die Naturgewalten sind, so scheint es, magische Mächte, mit denen auch in aufgeklärten und technisch hochentwickelten Zeiten zu rechnen ist. Angesichts der zerstörerischen Kraft der Naturgewalten erweisen sich menschliche Gebilde oft als wertloses Zeug. Das Balladenfazit “Tand, Tand, ist das Gebilde von Menschenhand!” wurde zum geflügelten Wort.
Auch die Ballade John Maynard (1886) ist die Verarbeitung eines Berichtes über eine moderne technische Katastrophe. Das Ereignis eines Brandes auf einem Dampfschiff im amerikanischen Eriesse von 1841, bot Fontane die Grundlage für die Ballade John Maynard (1886). Die Ereignisse spielten sich nicht mehr im Mittelalter ab, sondern in der Gegenwart und dazu noch in technisch fortschrittlichen Ländern wie England und der Neuen Welt. Das eigentliche Unglück geschah auf dem amerikanischen Eriesee, als der Raddampfer “Erie” – unterwegs von Buffalo nach Detroit – am 9. August 1841 durch eine Terpentinentzündung in ein starkes Feuer geriet. 200 Personen und der Steuermann fanden den Tod, während der Kapitän überlebte. Abweichend von diesem Ablauf kommt in der Fontaneschen Ballade niemand um, außer dem Steuermann John Maynard. Auch hier zeigt sich Kritik Fontanes an den Verfallserscheinungen der Zeit, in der seiner Meinung nach »Selbstsucht und Vorteilsdenken« vorherrschen. Die Ballade kann als Parabel einer sozialen Verpflichtung des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft gelesen werden. Der Steuermann rettet die Passagiere, weil er in einer brenzligen Situation an seinem Arbeitsplatz ausharrt, auf seine Berufskenntnisse vertraut und durch sein Pflichtbewusstsein motiviert ist. Fontane kreiert hier einen bürgerlichen Helden, der in der Arbeitswelt, nicht auf dem Schlachtfeld, seine Taten vollbringt, durchaus zu seinem persönlichen Nachteil, aber zum Nutzen der ihm anvertrauten Menschen. Das erinnert an christliches Märtyrertum:
»Er hat uns gerettet, er trägt die Kron',
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn."
Die Ballade wird zum Dokument der Erinnerung an eine humane Tat, für die die Gemeinde ihren kollektiven Dank zum Schluss in Marmor meißeln lässt.
Die Ballade Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland basiert auf einer alten Ortssage aus der Grafschaft Ruppin, die Fontane für seine Zwecke umgestaltet hat. Hinter dem Herrn, von dem im Titel die Rede ist, verbirgt sich ein realer Mensch: Hans Georg von Ribbeck (1689 – 1759), der für seine Kinder- und allgemeine Menschenfreundlichkeit bekannt war. In ihm gestaltet der Dichter einen Vertreter des bodenständigen, sesshaften Landadels, wie er ihn sich zeit seines Lebens gewünscht hatte: Träger eines großen Namens und zugleich ein liebenswerter Dorfpatriarch. Der Alte spricht das märkische Platt, identifiziert sich also mit der Dorfgemeinschaft, die ihn ebenfalls zu schätzen weiß, als sie ihn zu Grabe trägt. Den knausrigen Sohn hat Fontane in seiner Bearbeitung dazu erfunden, um über den Vater-Sohn-Konflikt die Gegensätzlichkeit zwischen der alten und der jungen Generation deutlich zu machen. So zeigt er auf, dass die alten Werte von Freigiebigkeit und Verantwortungsbewusstsein keine Bedeutung mehr haben, sondern Geiz und Habsucht der neuen Generation an deren Stelle getreten sind. Indem sich der großherzige Alte eine Birne als Grabbeigabe wünscht, bewirkt er über seinen Tod hinaus ein Vermächtnis für die Kinder des Dorfes. Sie können sich über Jahre hinweg zur Herbsteszeit mit Birnen bedienen. So spendet dieses humanistische Prachtexemplar beispielhaft einen Segen, der noch lange weiterwirken kann.
Fontanes inhaltliche Gestaltung basiert also auf ganz anderen Eigenschaften als in den üblichen Heldenballaden mit ihrer Hau-Drauf-Dynamik, nämlich solchen, die die Qualität eines geistig-distanzierten Menschen ausmachen. Ein solcher lebt Humanität praktisch vor, fühlt sich seiner sozialen Umwelt gegenüber verpflichtet, zeigt bei Konflikten Besonnenheit und bemüht sich in all seinem Tun um Nachhaltigkeit und Beispielhaftig-keit.
Fontane hat sich in seinen Altersballaden zum erfolgreichen Balladier weiterentwickelt, und zwar mit seiner Auffassung von einem sozialem und stillem Heldentum, das sich allein im Alltag, in der Lebenspraxis der Menschen bewähren muss.
Nachdem Fontane 1849 beschlossen hatte, nicht Apotheker, sondern Schriftsteller zu werden, musste er sich nach dem erstem Balladenruhm im „Tunnel“ als Journalist verdingen, denn mit seinen Finanzen stand es sehr schlecht. Ein Tunnel-Freund vermittelte ihm eine Stelle im konterrevolutionären preußischen Innenministeriums unter Otto Theodor von Manteuffel, was ihm ein bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen sicherte. So konnte Fontane endlich am 16. Oktober 1850 die Ehe mit Emilie Rouanet-Kummer schließen. Seit 1845 mit Emilie verlobt, war Fontane zum Zeitpunkt der Eheschließung 30 Jahre alt und stand finanziell vor dem Nichts. Da wusste das Paar noch nicht, dass noch schwere Jahre vor ihm lagen. Die Stelle im Innenministerium nannte sich "Literarisches Kabinett", dessen programmatische Zielsetzung darin bestand, "die Elementarklassen des Volkes" vor jedem "demokratischen Unsinn zu bewahren". Die Angestellten mussten dazu über hundert Zeitungen auswerten und staatlich Unerwünschtes exzerpieren, um daraus regierungsfreundliche Informationen zu formulieren. Durch Schließung des „Kabinetts“ am 31. Dezember verlor Fontane noch im selben Jahr diese Arbeit, wurde aber sogleich in die Nachfolgebehörde, die "Centralstelle für Preßangelegenheiten", eingestellt. Nun musste er Artikel für das reaktionäre Regierungsblatt »Adler‑ Zeitung« und Lobgedichte auf den Ministerpräsidenten schreiben. Der gerade noch freiheitlichdemokratisch Gesonnene hat diese erzkonservative Arbeit durchaus als eine Art innerer Verrat gesehen. Angewidert schrieb er Oktober 1851 an seinen Freund Bernhard von Lepel: »Ich habe mich heut' der Reaktion für monatlich 30 Silberlinge verkauft und bin wiederum angestellter Skriblifax (in Versen und Prosa) bei der seligen >Deutschen Reform<, auferstandenen >Adler‑ Zeitung<. Man kann nun mal als anständiger Mensch nicht durchkommen….«
Er stellte erfolgreich das Ersuchen, für den Sommer als Berichterstatter nach London entsandt zu werden. Hier wohnte Fontane ganz in der Nähe des berühmten Romanciers Charles Dickens, den er freilich nicht kontaktiert hat. Als Presseattaché der preußischen Regierung schrieb er regelmäßige Feuilletons und Essays über London und schickte sie zur Veröffentlichung nach Berlin. Er verließ England wieder am 25. September 1852. Im Dienste der Regierung zog er 1855 noch einmal für dreieinhalb Jahre nach London. Emilie hat ihn dort 1857 mit den Söhnen George und Theodor besucht. 1859 war dort Schluss und Fontane kehrte mit einer Abfindung von 2000 Talern im Januar 1859 nach Berlin heim. In das Vereinigte Königreich kam er nicht mehr zurück. Er war jetzt vierzig Jahre alt und stand wieder einmal vor den Problemen des Broterwerbs und angemessener Bezahlung.
Im Frühjahr 1860 kam er durch Vermittlung eines Tunnelfreundes bei der reaktionären Neuen Preußischen Zeitung unter, die allgemein Kreuzzeitung genannt wurde, weil sie das Eiserne Kreuz im Zeitungskopf trug. Einer ihrer Mitbegründer war Otto von Bismarck.
Als Untertitel nutzte die Zeitung vom Anfang bis zur letzten Ausgabe den deutschen Wahlspruch der Befreiungskriege: „Vorwärts mit Gott für König und Vaterland“. Es war das Blatt der konservativen Oberschicht (hohe Beamte, Adel, Offiziere, ostelbische Agrarier). Bei dieser Zeitung arbeitete er zehn Jahre, von 1860 bis 1870 als Redakteur. Immerhin hatte er jetzt ein gesichertes Gehalt von 900 – 1000 Talern für drei Stunden täglicher Arbeit. In der Kreuzzeitung ging es zum Teil um unverhohlene propreußische Propaganda und um Abwehr fortschrittlicher bzw. liberaler Ideen. Wenig bekannt ist, dass Fontane zugleich auch als „unechter Korrespondent“ gearbeitet hat, wie viele Journalisten zur damaligen Zeit auch. Da die meisten Zeitungen sich keine eigenen Korrespondenten im Ausland leisten konnten, schrieben manche Journalisten ihre Berichte zu Hause, taten aber so, als seien diese vor Ort - im Ausland also – entstanden. Auch die Kreuzzeitung konnte sich keinen Korrespondenten in London leisten, aber Fontane berichtete angeblich weiter aus London, ohne in dieser Zeit je wieder dort gewesen zu sein. Seine früheren Englanderfahrungen haben ihm aber sicherlich genützt, um seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Gelegentlich bezog er sich auf eine imaginäre Quelle vor Ort, was natürlich niemand nachprüfen konnte. Das journalistische Handwerk legte letztlich den Grundstein für seine späteren großen Romane. Selbst die Arbeit mit gefakten Informationen war sinnvoll, denn durch sie lernte der spätere Romancier das Entwickeln von Perspektiven, die dem Leser ja mindestens realistisch erscheinen müssen. Seine wichtigsten Englanderlebnisse hat er jedenfalls in zwei Büchern niedergelegt, in seinem ersten Reisebuch Ein Sommer in London (1854) und „Aus England“ (1860).
Im Sommer 1858 unternahm Fontane mit seinem Freund Bernhard von Lepel eine Reise von London aus 16 Tage (9. bis 24. August) nach Schottland, über die er in seinem Buch Jenseit des Tweed (Untertitel: Bilder und Briefe aus Schottland) berichtete, das erstmals 1860 veröffentlicht wurde. Bei dieser Reise legten die beiden Freunde 1300 Kilometer in 16 Tagen zurück. Der Tweed ist der Grenzfluss von England und Schottland im Osten Großbritanniens. Fontane interessierte sich dabei nicht für das moderne Schottland, sondern für das historische. Er wollte eine Reise in eine romantisch verklärte Vergangenheit darstellen. Mit diesen und anderen Reiseberichten bediente Fontane jedenfalls den in der Mitte des 19. Jhdts ausbrechenden Boom an Reiseliteratur, denn nur wenige Menschen konnten sich damals das Reisen leisten.
In den folgenden zwanzig Jahren (1862 – 1882) entstehen seine berühmten Heimat- und Reisebilder, die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, in denen er die Kostbarkeiten der Landschaft und Kultur zu Hause zeigen will statt sie im Ausland zu suchen. Sie zählen zu den bedeutendsten künstlerisch-journalistischen Reisefeuilletons des 19. Jahrhunderts. Das fünfbändige Werk ist mit 2500 Seiten Fontanes umfangreichstes Werk. Er beschreibt darin Schlösser, Klöster, Dörfer, Kleinstädte und Landschaften der Mark Brandenburg, ihre Bewohner sowie regionale Landadels- und Rittergeschlechter und ihre Geschichte: Die Grafschaft Ruppin (1862); Das Oderland (1863); Havelland (1873); Spreeland (1882) und erst nach seinem Tod: Fünf Schlösser (1889). Er forschte in alten Familienarchiven, vertiefte sich in Briefliteratur, Memoiren, Monografien und Sagen wie Legenden.1 Aber die besten Auskünfte bekam er neben Lehrern von den Landpastoren, die z. B. im Besitz der Kirchenbücher mit ihren Tauf- und Sterberegistern waren. Seine Quellen hat der Dichter in der Regel stets als Anmerkungen angegeben und so der späteren Forschung vieles erleichtert.
Fontane hat diese Aufgabe keineswegs ausschließlich als Wanderer bewältigt, sondern sich aller Reisemöglichkeiten der damaligen Zeit bedient: Eisenbahn, Postlinien und Schiff, am liebsten aber mit Kutschen. Als Fontane von seiner Geburtsstadt Neuruppin im Jahre 1907 das große Denkmal aufgestellt bekam, das den Dichter als auf einer Bank ausruhenden Wanderer darstellt, der konzentriert in die Weite blickt, um mög-lichst viele Eindrücke in sich aufzuneh-men, sah ein Teil der Kritiker darin eine einseitige Festlegung Fontanes auf den Status des Wanderers. Fontanes Ein-drücke und historische Erkenntnisse, die er jedenfalls durch diese Arbeit gewann, bildeten die Grundlage für seine späteren großen Romane wie Effi Briest oder Der Stechlin. Der letzte Band (Spreeland), 1881 erschienen, konnte zumindest die finanzielle Lage der Familie Fontanes ein wenig verbessern.
Parallel zu den Wanderungen betätigte Fontane sich als Kriegsbuchautor. Der Verleger Rudolf von Decker, von Fontanes Wanderungen sehr angetan, forderte ihn dazu auf, Texte zu den drei so genannten Einigungskriegen von 1864, 1866 und 1870 / 71 zu schreiben, die der vom preußischen König Wilhelm I. zum Ministerpräsidenten ernannte Otto von Bismarck 1862 initiiert hatte.
Ihm ging es um die Gründung eines deutschen Nationalstaates, bei dem das wirtschaftlich und politisch erstarkte Preußen die bedeutendere Rolle vor dem Konkurrenten Österreich spielen sollte, das bis dato der Vorsitzende des Deutschen Bundes war. Fontane, der schon früh den Gedanken der deutschen Nationaleinheit vertrat, stand diesbezüglich zunächst ganz auf Seiten Bismarcks, den er als einen "genialen Kraftmeier" bezeichnete. Der Ausdruck drückt schon sein ambivalentes Verhältnis zu Bismarck aus. Er respektierte das hohe Genie Bismarcks, doch die Achtung vor seinem Charakter schwand im Laufe der Jahre. Ab 1880 wandte Fontane sich wegen der Bismarckschen Innenpolitik (Kulturkampf) immer mehr vom Kanzler ab. In einem Brief von 1881 greift er die Worte des Volkes auf: "Er ist ein großes Genie, aber ein kleiner Mann."
Der Dualismus zwischen Preußen und Österreich sollte nun in diesen deutschen Einigungskriegen geklärt werden. Tatsächlich machten sie Preußen zur hegemonialen Großmacht auf dem Kontinent. Theodor Fontane hat alle drei Kriege – als Auftragsarbeiten - in großangelegten Kriegsbüchern beschrieben, nachdem er die Kriegsschauplätze besucht hatte. Dabei stand er unter großem Zeitdruck, denn kaum hatte er das eine Werk beendet, war der nächste Krieg schon wieder ausgebrochen. Mit dem Ausbruch des Deutsch-Dänischen Kriegs 1864 reiste Fontane ins Kriegsgebiet um Kopenhagen und Husum in Dänemark. Im Deutsch-Dänischen Krieg von (1864) ging es um die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, die von Dänemark verwaltet wurden und die der dänische König – nach dem verlorenen Krieg - zugunsten von Preußen und Österreich abtreten musste. Das Buch über den Krieg von 1864 erschien 1866. Darin gibt Fontane ein detailliertes Bild von den Geschehnissen des etwa sechs Monate andauernden Krieges. Im Mittelpunkt des Buches - mit über 160 Seiten der stärkste Teil - stehen die berühmten Düppeler Schanzen, deren Erstürmung (18. April 1864) den beteiligten Kriegsparteien erhebliche Verluste brachte, die präzise von Fontane erfasst werden. Im Umfeld des Buches entstanden auch einige Gedichte, die heute eher peinlich wirken, z. B. die Lobeshymne auf das preußische Heer und dessen Sieg bei den Düppeler Schanzen. Sie zeigt, dass zu den Aufgaben Fontanes eben auch preußische Gebrauchslyrik gehörte.
Nur zwei Jahre später standen sich die beiden gerade noch verbündeten Mächte Preußen und Österreich in einem neuen Krieg, dem so genannten Deutschen Krieg von 1866 gegenüber, in dem es vorrangig darum ging, den deutschen Dualismus endgültig zu beenden. Dieses Kriegsziel wurde bekanntlich zugunsten Preußens beendet. Fontanes zweibändige Arbeit über diesen Krieg kam 1870/71 heraus. Da begann schon der Deutsch-Französische Krieg, den die weit überlegenen deutschen Truppen zu einem schnellen Sieg über Frankreich führen konnten. Fontane reiste als Kriegsberichterstatter für die Vossische Zeitung nach Frankreich, denn er hatte im Frühjahr 1870 nach 10 Jahren Redaktionszugehörigkeit bei der Kreuzzeitung gekündigt. Diese Kriege berichtete Fontane mit gewissem Stolz, vermied aber die eher üblichen nationalistisch-militaristischen Töne.
Fast wäre Fontane in diesem Krieg beinahe ganz ohne Ruhm ums Leben gekommen. Als Kriegsberichterstatter, bewaffnet und unbefugt am Arm mit einer Rotkreuzbinde versehen, überschritt er naiv und unvorsichtig die feindlichen Linien, um in Domrémyla Pucelle (Vogesendepartement), den Geburtsort der Jeanne d'Arc aufzusuchen. "Fractireurs" (eine Art Widerstandskämpfer, Freischärler) fingen ihn ein, machten mit ihm, dem vermeintlichen Spion, aber nicht den sonst üblichen kurzen Prozess, sondern übergaben ihn der Präfektur, die ihn von Instanz zu Instanz weiterreichte, bis ein Militärgericht in Besançon ihn vom Vorwurf der Spionage freisprach. Um zu verhindern, dass er dennoch verwertbare Informationen an Deutschland weitergeben könnte, verbrachte man ihn als Gefangenen auf die Île d’Oléron (Atlantikinsel). Aufgrund seines Auftretens und seiner guten französischen Sprachkenntnisse wurde ihm der Status eines höheren Offiziers (Officier supérieur) zuerkannt, was ihm eine Sonderbehandlung im Vergleich zu den anderen deutschen Kriegsgefangenen einbrachte. Von Deutschland aus wurden mehrere Anläufe zu seiner Befreiung unternommen, aber (vermutlich) erst durch Intervention des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarcks, der drohte, das "Vorgehen gegen einen harmlosen Gelehrten" mit der Geiselnahme französischer Geiseln zu beantworten, kam Fontane nach acht Wochen Gefangenschaft frei. Er durfte allein durch Frankreich nach Genf reisen und gelangte unversehrt nach Hause. Der Dichter schilderte seine Erlebnisse 1871 in dem Buch Kriegsgefangen. Erlebtes 1870. Es erschien zuerst als Vorabdruck in der Vossischen Zeitung und unmittelbar danach als Buchausgabe bei Rudolf von Decker im Verlag der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei. Fontane, der sich für das Militärische stets aufgeschlossen zeigte, kam in die-sem Buch immerhin zu der Ansicht: "Die bloße Verherrlichung des Militärischen, ohne sittlichen Inhalt und großen Zweck, ist widerlich."
So kurz nach dem Krieg gegen den „Erb“feind konnte sein Kriegsbericht allerdings nicht zum Erfolg werden, zumal Fontane das von oben vorgegebene Feindbild nicht übernahm und sich auch – ganz Hugenottenspross - gegen die preußische Annexionspolitik in Elsaß-Lothringen aussprach. Vorsichtig ging er auf Distanz zur preußischen Staatsdoktrin, schrieb jenseits aller chauvinistischen preußischen Intentionen, was dem Absatz seiner in dieser Zeit entstehenden Bücher nicht förderlich war und ihn in den Ruf brachte, zu „franzosenfreundlich“ zu sein. Insgesamt aber akzeptierte der Autor die politischen Ziele des Krieges 70/71, wonach z. B. Straßburg nie wieder zu Strasbourg werden sollte. Immer mehr stellte er seine historische Arbeit in den Dienst politischer Ziele, der Legitimierung der Politik Preußens und dessen herausragender Stellung. Letztlich sah er sich als ein „in der Wolle gefärbter Preuße“.
An die Zeit als Kriegsbuchautor erinnerte er sich später in einem Brief aus dem Jahre 1891: „Zwölf Jahre habe ich an diesen Kriegsbüchern Tag und Nacht gearbeitet; sie feiern nicht in großen, aber in empfundenen Worten unser Volk, unser Heer, unsren König und Kaiser.“
Beide Männer, Bismarck und Fontane, und das ist das Merkwürdige, sind einander nie begegnet oder vorgestellt worden. Fontane hat sich bei Bismarck für dessen Bemühungen um seine Freilassung nicht mal bedankt, denn sein Verhältnis zum Reichskanzler war mehr als ambivalent. Er schätzte zwar dessen Redetalent, nahm aber an ihm Charakterschwächen wahr, die eine „reine helle Bewunderung“ bei ihm nicht aufkommen ließ. Und doch war und blieb Bismarck für ihn ein zentrales Thema, was sich beispielhaft in seinem Roman „Effi Briest“ nachweisen lässt. In einem Brief an den Schriftsteller Maximilian Harden vom 4. März 1894 stellte der Dichter fest:
«In fast allem, was ich seit 70 geschrieben, geht der <Schwefelgelbe> um, und wenn das Gespräch ihn auch nur flüchtig berührt, es ist immer von ihm die Rede.»
Schwefelgelb war die Kragenfarbe des 7. Halberstädter Kürassierregiments, dessen Chef Bismarck gewesen ist, wobei in Fontanes privater Farbenlehre Gelb als Farbe der Falschheit und Niedertracht galt. „Schwefel“ und „gelb“ stehen für dämonische Kräfte - besonders auffällig in Effi Briests „Spukhaus“, in dem es vier gelb gestrichene Zimmer gab.
Fontane war vier Jahre jünger als Bismarck, beide sind im Abstand von nur acht Wochen 1898 gestorben. Immerhin: Von Bismarcks Todestag (30. Juli 1898, die Fahnen waren auf halbmast gesetzt) berichtete Tochter Mete: „Papa sitzt und weint, was ich sehr begreife.“ Fontane überlebte Bismarck um zweiundfünfzig Tage und veröffentlichte vier Tage nach dem Ableben des Kanzlers am 3. August 1898 auf der Titelseite der "Vossischen Zeitung" sein letztes, bis heute bekanntes Gedicht "Wo Bismarck liegen soll". Er griff damit in einen Streit zwischen der Familie Bismarck mit Kaiser Wilhelm II. ein, der die Einvernahme des früheren Kanzlers zu dynastischen Zwecken plante und ihn in der Fürstengruft der Hohenzollern im Berliner Dom beisetzen wollte. Die Familie konnte sich durchsetzen und ihren Toten in Friedrichsruh (östlich von Hamburg) beisetzen. Das Gedicht enthält eine versteckte Kritik des Dichters gegen den Bismarck-Widerpart Wilhelm II. und stellt sofort in der ersten Zeile seines Gedichts eine demonstrative Forderung: „Nicht in Dom oder Fürstengruft, / Er ruh' in Gottes freier Luft“ und macht ein paar Verse weiter aus dem Preußen Bismarck einen Sachsen: „"Ein Sachse war er, drum ist er mein, / Im Sachsenwald soll er begraben sein." Die Familie von Bismarck hat es dem Autor gedankt und die letzten sieben Zeilen des Gedichts am Bismarck-Mausoleum, der Grablege der von Bismarcks, anbringen lassen.
Dass Fontanes Kriegsbuch Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 zunächst in der »Vossischen Zeitung«, Berlins auflagenstärkster Zeitung, von den Berlinern „Tante Voss“ genannt, vorabgedruckt wurde, hatte seinen Grund. Ab Sommer 1870 arbeitete Fontane als freiberuflicher Theaterkritiker in diesem Blatt (bis 1889/90), nachdem er bei der Kreuzzeitung gekündigt hatte. Deshalb musste er sich auch von der "Vossischen Zeitung" beurlauben lassen, um überhaupt als Kriegsberichterstatter vom Deutsch-Französischen Krieg berichten zu können. Bei dem bürgerlich-liberalen, im übrigen aber kaisertreuen Blatt, das auf eine lange Tradition seines literarisch-kritischen Feuilletons verweisen konnte, wurden Fontane hervorragende Arbeitsbedingungen und eine gute Bezahlung geboten. Er konnte entscheiden, welches der Theaterstücke er rezensieren wollte, wobei ihm bis zu zwei Spalten zur Verfügung standen, mehr als bei jeder anderen Redaktion. Bei der Einstellung betrug sein Jahresgehalt 500 Reichstaler, das schon bald auf 1200 Taler pro Jahr erhöht wurde. Als Theaterkritiker im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt verfolgte Fontane von seinem Stammplatz (Parkettplatz 23) aus die Aufführungen der ersten Bühne Berlins, deren kritische Bewertungen in der Regel zwei Tage später in der »Vossin« zu lesen waren. Im Laufe der nächsten 20 Jahre (von 1870 bis 1889) lieferte er ca. 750 Theaterkritiken. Dabei schrieb er rezeptionsorientiert, d. h. auch Leser, die das Schauspiel nicht gesehen hatten, konnten Gewinn aus seinen Ausführungen ziehen, zumal er auf den üblichen Kritikerjargon verzichtete, anschaulich schrieb und sich als ein Meister der entscheidenden ersten Sätze erwies. Er bekannte sich rückhaltlos zur Subjektivität des eigenen Urteils und machte sich als einer der ersten Kritiker zum Fürsprecher für die aufkommende naturalistische Bewegung (etwa bei Ibsens »Gespenstern« oder Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang« und »Die Weber«, die er im Jahre 1894 als seine letzte Aufführung besprach.) Als er schließlich im 70. Lebensjahr (1889) seinen festen Anstellungsvertrag löste, zahlte ihm die »Vossische Zeitung« eine jährliche Pension von 1500 Reichsmark. Seit den 80er Jahren ging es den Fontanes zunehmend gut und es gibt Hinweise, dass sie in späteren Jahren auf beachtliche Jahreseinnahmen in Höhe von 2500 bis 3000 Taler gekommen sind.
Erst im Herbst des Lebens wird Fontanes alter Wunsch, als freier Schriftsteller zu leben, endlich wirklich wahr. Theodor Fontane war fast 60 Jahre alt, als er anfing, Romane und Erzählungen zu schreiben. 1878 erschien sein erster Roman "Vor dem Sturm", gefolgt von einer intensiven Schaffensphase von 22 Jahren, in denen er mit 16 Romanen sowie zahlreichen Novellen und Balladen zum wichtigsten Vertreter des poetischen Realismus avancierte. Dennoch hat er die längste Zeit seines Lebens, mehr als vier Jahrzehnte lang, überwiegend, wenn auch eher ungern, als professioneller Journalist gearbeitet. Zu seinen erfolgreichsten Erzählwerken zählen "Irrungen, Wirrungen" (1888), "Frau Jenny Treibel" (1893), "Effi Briest" (1895 und "Der Stechlin" (1899). Seine Romane halten ein kritisches zeitgenössisches Gesellschaftsbild fest und rücken die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts in unsere Gegenwart, denn “das Poetische hat immer recht, es wächst weit über das Historische hinaus” (T. F.)
Mit dem Roman Effi Briest, an dem er fünf Jahre gearbeitet hatte, gelang ihm 1895 der große Durchbruch. Es wurde in kürzester Zeit zum meistgelesenen Buch Fontanes, kam in kürzester Zeit auf fünf Auflagen und Fontane notierte in sein Tagebuch: "der erste wirkliche Erfolg, den ich mit einem Roman habe." Man muss dabei bedenken, dass Buchauflagen von 500 bis 1000 wenig Geld brachten, so dass sie oft vor dem Druck in Form von Fortsetzungsromanen in Zeitschriften erschienen. Der Roman Effi Briest gilt als ein Höhe- und Wendepunkt des poetischen Realismus der deutschen Literatur. Hatte bis zu dieser letzten Phase die Familie aus Geldmangel sehr bescheiden leben müssen, erreichte sie jetzt mit den letzten Büchern einen gewissen bürgerlichen Wohlstand. Mit Recht hat die Germanistin Katharina Grätz in ihrem äußerst lesenswerten Buch festgehalten: „Fontanes erzählerisches Werk ist ein Alterswerk, es bildet eine der großen künstlerischen Altersleistungen in der Weltliteratur.“
Im Laufe seines Schaffens entwickelte Fontane sich zu einem realistischen Autor. Der Realismus, so die Bezeichnung der Literaturepoche vor allem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (1848 – 1890), versucht das Verhältnis zwischen Literatur und „Wirklichkeit“ möglichst präzise zu erfassen. Realismus ist abgeleitet von lat. res – Ding, Sache, Wirklichkeit und verlangt als Ideal realistischen Erzählens eine größtmögliche Objektivität. Diese wird häufig durch auktoriales Erzählverhalten umgesetzt: Ein realistischer Dichter sieht sich als illusionsloser Beobachter, der seine Erfahrungen detailliert und ohne Parteinahme schildert. Er will aber dabei nicht als Erzähler erkennbar werden und verzichtet daher auf jegliches Moralisieren und Räsonieren. Vor allem will er nicht schreiben, als sei er ein Photograph, der mit seiner Kamera versucht, die Realität 1 : 1 abzubilden. Fontane versteht unter „Realismus“ nicht nur „die bloße Sinnenwelt“ und „das bloß Handgreifliche“, sondern er will die Dinge und Zusammenhänge mit bestimmten Techniken der Ästhetisierung in ihrer Aussage überhöhen. Fontane spricht diesbezüglich von „poetischer Verklärung“ oder „poetischem Realismus“, was Theodor Storm kürzer und präziser mit „vergolden“ meint. Wenn schon die den Menschen umgebende Realität sich nicht verwandeln oder verändern lässt, so kann sie wenigstens doch durch die Kunst verklärt, d. h. mit speziellen literarischen Mitteln verarbeitet, „vergoldet“ werden. Topographische Detailgenauigkeit ist bei Fontane immer ein Hinweis auf soziale Zusammenhänge und fungiert oft als Vorausdeutung des Geschehens. So fungiert das fest gefügte „Herrenhaus“ im Roman „Effi Briest“ als Herrschaftssitz der Adelsfamilie „Briest“, dient aber zugleich auch der Repräsentation der sozialen Stellung seiner Bewohner. Die liebevoll geschilderten Platanen und der farbintensive und stark duftende Heliotrop (Vanillepflanze) spiegeln eine geordnete Naturschönheit und eine idyllische Ruhe wider, stehen für Lebensbejahung. Die „Sonnenuhr“ im ersten Kapitel ist ein sinnfälliges Symbol für unbeschwerte Stunden, die Effi im Elternhaus erleben durfte. Andererseits ist das ebenfalls in der Eingangsszene beschriebene Rondell ein typischer fontaneischer Vorausblick, was erst später deutlich wird, denn das Rondell wird am Romanende Effis frühes Grab.
Ein besonderes Beispiel für das künstlerische Übersteigen der puren Realität ist das berühmte Schaukelmotiv gleich zu Beginn des Romans. Effi mit ihrer Leidenschaft des Schaukelns erscheint ihrer Mutter als „Tochter der Luft“, die sich einerseits dem Himmel nah, also frei fühlt, andererseits das riskante Spiel liebt mit der Möglichkeit des Abstürzens, des Verlierens der Bodenhaftung. Die „Schaukel“ symbolisiert Effis Verlangen nach schwerelosem Glück. Zugleich aber macht die windschiefe Schaukel, die im Kontrast zum festgefügten Herrenhaus steht, die Fragilität der Situation deutlich wie auch die kindliche und etwas leichtsinnige Persönlichkeit der Protagonistin. Mit künstlerischen Mitteln (z. B. der Symbolisierung, Andeutung, Vorausschau) versucht Fontane zu einer Überhöhung der Wirklichkeit zu gelangen. Die von ihm betriebene „Verklärung“ bedeutet aber nicht, der Realität völlig enthoben zu sein, sondern sie ist eine Art „Schreibweise“, die ein Werk erst zur Kunst erheben kann; denn erst der Künstler bringt das Schöne hervor und transformiert es in eine ansprechende Form als Kunstwerk. Fontane verklärt die Wirklichkeit auch oft mit Humor und Ironie, um eine Distanz zum Erzählten zu erreichen, oder damit, dass Orts- und Naturbeschreibungen oft symbolisch auf das Innenleben der Figuren anspielen; sie dienen dann gleichsam als Spiegel der Seele der Protagonisten. „Verklären“ heißt also nicht detailgenaues Abschil-dern der Oberflächlichkeiten der „Wirk-lichkeit“, sondern ist das künstlerische Hervorbringen von Zusammenhängen, die sich dem Leser nicht so ohne weiteres erschließen. Die Hinweise aus dem Ein-gangskapitel von „Effi Briest“ zeigen, was für fast alle Romane Fontanes gilt: Es empfiehlt sich immer, die Romananfänge besonders intensiv zu lesen. Hier sind oftmals Vorausbedeutungen und symbolische Hinweise in Bezug auf den Handlungsverlauf und die Charaktere der Protagonisten versteckt. Der Dichter selbst hat sich in einem Brief vom 18. Au-gust 1880 wie folgt zur besonderen Bedeutung des Erzählanfangs geäußert:
„Das erste Kapitel ist immer die Hauptsache und in dem ersten Kapitel die erste Seite, beinahe die erste Zeile [ … ]. Bei richtigem Aufbau muss in der ersten Seite der Keim des Ganzen
stecken.“
In allen Werken Fontanes spielen Motive, Symbole und vor allem »Finessen« eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt des Textes. Unter »Finessen« versteht der Dichter Anspielungen in seinen Texten, die sich beispielsweise auf die Namensgebung seiner Protagonisten beziehen. Häufig haben die Namen eine Signalwirkung, die beim Leser Assoziationen auslösen, ohne dass der Erzähler diese direkt ansprechen muss (z. B. heißt der störrisch-sperrige Verehrer von Co-rinna Schmidt im Roman Frau Jenny Treibel anspielungsreich Marcel W e d- d e r k o p p, während der wenig einfühlsame Seelsorger in der Novelle Grete Minde als Pastor R o g g e n s t r o h ebenfalls einen so genannten „sprechen-den Namen“ bekommen hat.
Die Verklärung ist bei den poetischen Realisten als eine Art Gegenbegriff zum Hässlichen, Schlechten, Sinnlosen zu denken, das sie weitgehend aus ihren Texten ausschließen, zumindest aber in den Hintergrund rücken. Man kann die Verklärungstendenz auch als künstlerisches Ordnungsprinzip deuten, das einem Geschehen überhaupt erst Sinn verleiht. Dagegen stehen bedrohliche, unangenehme, grausame Tatbestände wie Kriege, Armut, Krankheit oder Tod. Wenn nun der Realismus behauptet, alles wirkliche Leben widerspiegeln zu wollen, darf er diese Probleme menschlicher Existenz natürlich nicht verdrängen bzw. ausschließen. Auch Fontane spricht dem Hässlichen, Schlechten, Bedrohlichen seine Daseinsberechtigung in der Kunst keineswegs ab. Aber er will unbedingt vermeiden, dass den Schattenseiten der dargestellten Realität ein überproportionaler Anteil eingeräumt und die erzählte Geschichte dadurch inhaltlich verzerrt wird; daher werden die Schattenseiten bestenfalls nur vage angedeutet. Nach Fontane ist ein Überwiegen des Außernormalen, etwa in einem Charakter, durchaus möglich, aber er be-steht auf der Ansicht, die Kunst habe „nicht Ausnahmefälle, sondern Durch-schnittscharaktere zu zeichnen.“
So ,konstruiert' Fontane einen verklärten Blick auf die Realität der wilhelminischen Ära und Gesellschaft, und lässt bewusst das aus seiner Sicht Widerstrebende oder auch Bedrohliche außer Betracht, womit er zugleich ein Anliegen seiner bürgerlichen Leser umsetzt. Beide haben nämlich Angst vor der Proletarisierung der Gesellschaft im Zuge der Industrialisierung und der damit verbundenen gesellschaftspolitischen Konflikte. Sowohl der vierte Stand als auch die soziale Frage, die wohl dringendsten Probleme der wilhelminischen Kaiserzeit, wurden vom Bürgertum gern gemieden. Bei der Darstellung der höheren Stände bleiben die Bereiche der Arbeit und des Wirtschaftlichen ebenfalls weitgehend ausgespart. Fontane reduziert mit dieser Auffassung die Funktionen des Romans eigentlich auf die Forderungen des römischen Dichters Horaz in seiner Ars Poetica zurück: der Roman solle "erfreuen und nützen" („prodesse et delectare“).
Anfang 1896 äußert sich Fontane in einem Brief an seinen Freund, den englischen Arzt James Morris allerdings sehr positiv zur deutschen Arbeiterbewegung:
"Alles Interesse ruht beim vierten Stand. Der Bourgeois ist furchtbar, und Adel und Klerus sind altbacken ... Alles ist (bei den Arbeitern) viel echter, wahrer,
lebensvoller."
Aber die Arbeiterklasse und die aufkommende Arbeiterbewegung spielen in Fontanes Romanen so gut wie keine Rolle. Den so genannten »Vierten Stand«, die Unterschicht also, entdeckte erst der Naturalismus (1870 – 1900) als Thema der Literatur. Ebenso wird auch die Soziale Frage in Fontanes Romanwelt nicht aufgeworfen. Die so genannte Soziale Frage umfasst bekanntlich alle sozialen Probleme, die es in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Folge der Industriellen Revolution gab. Erst der Naturalismus verlangt dann radikal, die soziale Wirklichkeit ohne jede Beschönigung darzustellen, weshalb z. B. die elenden Lebensumstände des Proletariats, die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Konsequenzen der Verstädterung zu sehr wichtigen Themen werden. So gesehen ist die Kunstbewegung des Naturalismus kein Neuansatz, sondern eher eine Radikalisierung der bisherigen "realistischen" Tendenzen. Der Hauptunterschied liegt hier im bewussten Verzicht auf jede Art von Verschönerung der Realität und in dem dezidierten Wollen, gerade auch das Hässliche, Abstoßende der Wirklichkeit in die Kunstproduktion aufzunehmen. Während der Realismus die innere Wahrheit darzustellen und poetisch zu überhöhen versucht, gibt der Naturalismus die äußere Wirklichkeit mit all ihren Facetten wieder. Nicht uninteressant ist, dass Fontane das von Gerhart Hauptmann verfasste Sozialdrama Vor Sonnenaufgang (1889) dem Berliner Verleger Paul Ackermann zur Veröffentlichung empfahl und damit dazu beitrug, der neuen naturalistischen Richtung zum Durchbruch zu verhelfen.
Die große Bandbreite, unter der die Wirklichkeit begriffen werden kann, hat in der Literaturwissenschaft dazu geführt, durch Beifügungen (z. B. poetischer, bürgerlicher, sozialistischer Realismus) zu spezifischen Differenzierungen in der Wirklichkeitssicht zu gelangen.
Noch in seinem Todesjahr 1898 äußerte sich Fontane in einem Brief (12. Mai 1898) an Friedrich Paulsen, dass jedweder Versuch der jüdischen Assimilation an das Deutschtum gescheitert sei. Die Schuld dafür sah er im jüdischen Volk,
"dem von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann [ ... ] es wäre besser gewesen, man hätte den Versuch der Einverleibung nicht gemacht. Einverleiben lassen sie sich, aber eingeistigen nicht. Und das alles sage ich (muß es sagen), der ich persönlich von den Juden bis diesen Tag nur Gutes erfahren habe."
Solche und andere antijüdische Ressentiments finden sich bei Fontane schon viel früher, aber das vorliegende Zitat beweist zugleich, dass er bis zu seinem Lebensende an ihnen festgehalten hat, obwohl er persönlich eigentlich keinen Grund dazu hatte. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen antisemitischen Zeitstimmung im Kaiserreich hatte Fontane, wie viele Bürger auch, die grassierende Judenfeindschaft übernommen und ragt in dieser Hinsicht nicht aus der Masse seiner biederen Mitbürger heraus. Die „Judenfrage" war auch ein Dauerthema in den häuslichen Gesprächen mit Tochter Martha und Ehefrau Emilie, wobei Emilie wohl die radikaleren Positionen vertrat.
Maßgeblich gefördert wurden die antijüdischen Ressentiments durch den so genannten Berliner Antisemitismusstreit, einer öffentlichen Debatte von 1879 bis 1881 im Kaiserreich über den Einfluss des Judentums. Die so genannte Judenfrage wurde von dem protestantischen Theologen und Hofprediger der Hohenzollern, Adolf Stoecker (1835 - 1909) in Form eines üblen Antisemitismus von der Kanzel verkündet. In das gleiche Horn stieß auch der berühmte Geschichtsprofessor und nationalliberale Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke (1834 – 1896), der den verhängnisvollen Satz „Die Juden sind unser Unglück“ in die Welt setzte, der später zum Schlagwort des nationalsozialistischen Hetzblattes »Der Stürmer« wurde. Es war nichts Originäres, aber beide sprachen aus, was viele dachten. Fontanes antisemitische Äußerungen sind aber ausschließlich brief- und tagebuchverborgen überliefert, so dass sein erzählerische Werk nicht davon betroffen ist. So blieb Fontane zwar nicht unberührt von der antisemitischen Zeitstimmung, aber alle seine öffentlichen Äußerungen über die Juden sind durchwegs kommod und freundschaftlicher Art. Er war sogar mit vielen Juden eng befreundet, etwa mit dem Schmiedeberger Amts-richter Georg Friedlaender oder mit dem Verleger Wilhelm Hertz, der über die Jahre hinweg von allen Verlegern die meisten Texte von ihm publiziert hat oder auch mit dem Maler Max Liebermann, dem wir schöne Altersporträts des Dichters verdanken.
Unbestritten ist, dass Fontane sich die antijüdischen Ressentiments seiner Zeitgenossen weitgehend unkritisch zu eigen gemacht hat, diese aber nicht veröffentlicht und sein erzählerisches Werk komplett davon frei gehalten hat! Sie wurden auch zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht. Insofern kann von einem starken Antisemitismus bei Fontane nur bedingt die Rede sein. Die Germanistik hat sich mit dieser Problematik schwergetan. Norbert Mecklenburg spricht von einem "bald mehr, bald weniger latent bleibenden Alltagsantisemitismus, der ihm [Fontane] als solcher gar nicht zu Bewusstsein kommen musste, weil er so verbreitet war." Ähnlich wie Mecklenburg charakterisierte der amerikanische Germanist John Kremnitzer 1972 den Dichter als einen relativ gemäßigten „wilhelminischen Antisemiten“, der sich unreflektiert wie viele Bürger nach den damals weitverbreiteten Vorstellungen ausrichtete. Der Germanist Norbert Mecklenburger vertritt in diesem Streit eine gewisse Mehrheitsmeinung, indem er von der fatalen Differenz zwischen dem öffentlichen und dem privaten Fontane ausgeht. So sei der private Antisemitismus Fontanes nicht zu leugnen, aber das erzählerische Werk sei – Gott sei Dank - davon nicht betroffen. Der Fontane-Experte Gotthard Erler sekundiert: „Er [Fontane] hat nichts Antijüdisches publiziert, und sein privat eingestandener Antisemitismus beschädigt nicht ernst-haft die Größe seiner literarischen Statur.“ Es wäre daher völlig abwegig, Fontanes krude Aussagen zu Juden und Judentum nicht im Lichte unserer Erfahrungen, sondern im Lichte des Holocaust zu beurteilen. Fest steht aber, dass Fontane den Zeitgeist nur literarisch und publizistisch gespiegelt hat, ohne selbst als engagierter Antisemit in Erscheinung zu treten.
Fontanes politische Biografie ist durch einen Richtungswechsel zwischen Liberalität und Konservatismus gekennzeichnet. Auf das Freiheitspathos erster, vormärzlich gestimmter Gedicht, folgten seine national-konservativen Balladen, in denen preußische Helden besungen werden. Dann wechselte er 1850 in den Dienst der reaktionären preußischen Regierung und verdingte sich nach weiteren zehn Jahren als Redakteur der ultrakonservativen Berliner "Kreuzzeitung", bevor er 1870 zur liberaleren „Vossischen Zeitung“ wechselte, die sich während des Kulturkampfes gegen die Regierung sowie von 1884 bis 1890 verstärkt gegen die Innenpolitik Bismarcks wandte. Zunächst unterstützte er Bismarck, hielt aber ab 1890 Distanz zu ihm. Hatte er zunächst den jungen Kaiser Wilhelm II. bewundert, wandte er sich schon bald – angewidert von dessen Allüren – von ihm ab. Im Alter schien er sich sogar noch für die Sozialdemokratie und die Arbeiterbewegung zu erwärmen. Tatsache ist, dass man ihn nirgendwo eindeutig einordnen kann. Auf Fontanes politische Meinung konnte man sich keineswegs verlassen. Er war in seinen Ansichten oft schwankend und häufig durchaus auch widersprüchlich, zwiespältig. Für viele seiner Positionen lassen sich nach Bedarf entsprechende Belege aus seinem Roman- wie Briefwerk herauslesen. Bei vielen Problemen und Anschauungen seiner Zeit zeigte Fontane eine ambivalente Haltung, wie etwa in der Judenfrage oder in der Beurteilung der Ständegesellschaft.
Gewiss ging Kunst auch für Fontane nach Brot. Er musste Geld verdienen und da blieb ihm keine Wahl, als zum Lebensunterhalt auch für die falschen Zeitungen zu schreiben. Einer der Gründe für seine breit gefächerte Ambivalenz mag auch wohl in seiner bunten Biographie liegen. Es scheint aber auch das Widersprüchliche geradezu ein Grundschema seines Denkens gewesen zu sein. Der Kritiker Fritz J. Raddatz hat dieses Faktum auf einen griffigen Nenner gebracht: „Die innere Räson des Theodor Fontane ist das Sowohl‑ Als‑ auch, nie das Entweder‑ Oder.“ Fontane ging von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung aus, die er aber nur verbessern wollte; für einen Umsturz der Verhältnisse war er zu keinem Zeitpunkt zu haben. Die verschütteten altpreußischen Tugenden wollte er wieder zu neuem Leben erwecken und so dem preußischen Staat dienen. „Er will die Französische Revolution ohne Revolution“, sagt Raddatz, der Fontane für einen Quietisten hält, für einen Leisetreter, Besänftiger. Thomas Mann (geb. 1875, Literatur-Nobelpreis 1929) bezeichnete den Dichter in seinem berühmten Essay von 1910 als einen »unsicheren Kantonisten«. Das bezog sich u. a. auf Fontanes berufliche und vor allem politische Metamorphosen. Aber der spätere Nobelpreisträger sprach Fontane die Fähigkeit zu, Unvereinbares nebeneinander bestehen zu lassen: „ [ ... ] gewiß ist, das er der Mann war, in dem beide Anschauungen, die konservative und die revolutionäre, nebeneinander bestehen konnten; denn seine politische Psyche war künstlerisch kompliziert, war in einem sublimen Sinn unzuverlässig...“
Fontane als einen gesinnungslosen Opportunisten zu sehen, wäre aber dennoch falsch. Fontanes Aussagen umfassen einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren, der also groß genug ist, wo wohl die meisten Menschen eine Revision früherer Ansichten vornehmen. Aber im Alter, mit endlich erkämpfter Souveranität, entwickelte Fontane einen spezifischen Altersradikalismus. In einem Brief an an Georg Friedlaender vom 7.11.1893 legt er sich fest: „Personen, denen irgend etwas absolut feststeht, sind keine Genossen für mich; nichts steht fest, auch nicht einmal in Moral- und Gesinnungsfragen und am wenigsten in sogenannten Tatsachen."
In seinem letzten Roman „Der Stechlin“ lässt er Pastor Lorenzen am Grabe des alten Stechlin sagen: "Alles Urteil ist einseitig und beschränkt, und das der Nahestehenden am meisten." Und Dubslav von Stechlins Motto "Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig" muss man so verstehen, dass es nicht vordergründig um eine subjektive Festlegung durch den Verfasser geht, sondern darum, dass der Empfänger oder Leser sich mit dieser Aussage auseinandersetzt und dass darüber seine Phantasie angeregt wird. Der Dichter überlässt die Folgerungen seinem Publikum. Immerhin trifft dieser Aphorismus die Aussage eines Spruches von Oscar Wilde, wonach es keine ganzen Wahrheiten gebe, sondern nur anderthalbe oder halbe.
In der Figur des Dubslav von Stechlin, offensichtlich von Fontane gestaltet als Mischung aus Autorenporträt und Idealbild, zeichnet er einen Menschen, der an »unanfechtbare Wahrheiten« nicht glaubte, hingegen an Paradoxien seinen Spaß hatte, der gern eine freie Meinung hörte (»je drastischer und extremer, desto besser«) und der »hinter alles ein Fragezeichen machte«.
Der alte Fontane hat sich in der Figur des Dubslav nach vorherrschender Meinung die Geschichte seiner gewünschten Exis-tenz geschrieben. Man darf aber Fontane keinesfalls mit dem alten abgeklärten Dubslav identifizieren, denn Dubslav von Stechlin war ein geschlossener Charakter, sein Schöpfer aber war es keineswegs. „Das Werk war größer und humaner als er selbst. Es bildet eine eigene Welt und ist nicht biographisch zeitgebunden zu lesen.“
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